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Stand: 30. Januar 2009
Ingeborg Bachmann Das dreißigste Jahr
Steward O’Nan: Abschied von Chautauqua
Weggehen, etwas beenden und anderswo, anderswie beginnen. Wir alle kennen das in unterschiedlicher Ausprägung. Seltsam ist jenes: „Am liebsten weg!“ dann, wenn äußerlich betrachtet, besehen alles top ist. Draußen scheint die Sonne, es ist ein klarer Herbst, Sommer, oder doch: Frühlingstag. Ein Morgen. Es ist immer morgens, wenn wir wegwollen, sollen. Seltsam. Unser Arbeits oder Urlaubstag gestern verlief blendend. Wir haben es geschafft. So dachten wir. Für heute, haben wir es mal wieder geschafft. Glück gehabt. So, mit dieser Art Abrechnung sind wir ins Bett. Alles OK, alles friedlich. So, d.h. ohne schlechtes Gewissen wachen, stehen wir anderntags auf und irgendwann, wir sind allein, man ist immer allein, oder besser: für sich, wenn der Gedanke: Am liebsten weg und was anderes, ganz neues tun, wir sind immer für uns, bei uns, wenn dieser Gedanke sich meldet, durchdringt, endlich sich uns gegenüber äußern, sich auszusprechen vermag. Wir meinen es ernst. Wir sagen uns das nicht bloß so vor. Nein, dieser Gedanke ist mehr, eine Art Vorbote. Ins Lächerliche gezogen könnte man, könnten wir sagen: Wir werden gerufen. Doch das ist Unsinn So daher geredet, geschrieben, ohne sicheren Grund.

Er muss die Koffer packen, seine Umgebung, seine Vergangenheit kündigen. Er muss nicht nur verreisen, sondern weggehen. So heißt es zu Beginn in der Erzählung „Das dreißigste Jahr“, geschrieben, -erlitten und verfasst von Ingeborg Bachmann, die, wir wissens, später auf mysteriöse Weise ihr Leben verlor, die in einem Zimmer, in Rom verbrannte. Ihr Held zuvor reist gleichfalls nach Rom. Immer nach Rom. Immer dahin: Er muss nach Rom gehen, dorthin zurück, wo er am freiesten war, wo er vor Jahren sein Erwachen, das Erwachen seiner Augen, seiner Freude, seiner Maßstäbe und seiner Moral erlebt hat. Nun sind wir irritiert. Sowas ging noch in den 50ziger Jahren des 20zigsten Jahrhunderts. In bestimmten Kreisen, Schichten. Man begab sich, am besten nach bestandener Abiturprüfung, auf Bildungsreise und feierte, richtig!, in Rom seine zweite Geburt, so, wie’s Göthe tat, damals, auf seiner ideellen Reise nach Griechenland. Was uns verbindet, mit dem Held der Geschichte, mit Ingeborg Bachmann ist heutzutage das „Weggehen wollen, sollen, dürfen und müssen“. Rom, gar eine Rückkehr dorthin, scheint absurd, bodenlos, ohne Grund.

Und, es gibt ja auch noch die Amerikaner, zum Beispiel. Und nicht jeder ist allein. Es gibt auch welche, die sind integriert in der Familie, sind immer eingebunden, sind faktisch, geistig verwoben, durchsetzt mit Alltagsgeschehen in der family. Das Buch, der Roman von Stewart O’Nan „Abschied von Chautauqua“, im Original, seltsam, „Wish you were here“ benannt, ist ein dickes Buch, ein Wälzer, wie man gemeinhin sagt, etwas, das man über Wochen oder Monate liest. Immer wieder. Abends im warmen, im wintergeheizten Zimmer, mal eine Tasse Tee, mal einen Cappuccino vor uns, so lesen wir in dem Buch, mal 2, mal 5 Kapitel. Das sind zwischen 3 und 5 Seiten. Mehr Alltag, mehr Familie schaffen wir nicht. Es ist alles alltäglich, was wir erfahren, es gibt nichts, was wir nicht kennen, nicht von der Art her nachvollziehen können. Weggehen, am Ende des in Chautauqua verbrachten Urlaubs wollen alle. Irgendwie, will jeder weg. Jeder, die Jungen, die Kinder ebenso wie die Großmutter und Tante. Die Eltern dazwischen sowie so. Den ganzen Morgen fuhren sie in die Sonne. Auf dem Weg von Jamestown nach Corning gab es überhaupt nichts, und Kenn war froh, dass sie genug Benzin hatten; er kam sich irgendwie illoyal vor, als würde er für immer entfliehen und sich von dem Gewirr aus Eifersucht und Gekränktsein befreien.
Kann man’s besser, noch klarer und einfacher auf den Punkt bringen, sagen, warum wir „einfach wegwollen, sollen und müssen“? Entfliehen und sich aus dem Gewirr von Eifersucht und Gekränktsein befreien. Was wir nicht verstehen, ist, dass dieses „Wollen“ illoyal, also vertragsbrüchig sein soll. Irgendwie hat das eine nichts mit dem anderen zu tun. Oder?

- Keine weiteren Bücher -


Die Bücher:
Ingeborg Bachmann. Das dreißigste Jahr. R.Piper & Co Verlag München, 1961.
Steward O’Nan. Abschied von Chautauqua. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 2005

Ingeborg Bachmann. Das dreißigste Jahr. ↑
Steward O’Nan. Abschied von Chautauqua. ↑
Martin Walser. Ein liebender Mann. →
Philip Roth. Exit Ghost. →
Walter Moers. Der Schrecksenmeister →
Rüdiger Safranki. Romatik (Eine deutsche Affäre) →
Paul Auster. Die Brooklyn-Revue →
Betrand Russell. Denker des Abendlandes →
Harry Mulisch. Siegfried. →
Justus Noll. Ludwig Wittgenstein - David Pinsent →
Maarten't Hart. Das Wüten der ganzen Welt →
Jonathan Franzen. Die Unruhezone →
Franz Kafka. Tagebücher →
Uwe Timm. Johannisnacht →
Günther Grass. Beim Häuten der Zwiebel →  
Martin Walser. Angstblüte →
Sigrid Damm. Christiane und Goethe →
Philip Roth. Jedermann →
Saul Bellow. Damit du dich an mich erinnerst →
Eric-Emmanuel Schmitt. Das Evangelium nach Pilatus →

Judith Hermann. Nichts als Gespenster →
Erhard Köllner. Homosexualität als anthropologische Herausforderung →
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