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Stand: 14. September 2007
Justus Noll: Ludwig Wittgenstein-David Pinsent
Philosophen sind schwer zu fassen.

Doch für viele, für unsereins, werden sie gerade dadurch spannend. Zunächst ist es die Sache, das Thema, das Feld, das interessiert. Später ist es der Mensch, der potentielle Freund, unser alter ego aus dem Bücherregal, der/das fasziniert; mehr: der unsere Phantasie, unser Denken beschäftigt, beidem Nahrung gibt und ist, auch, wenn wir nicht mehr irgendwelchen akademischen Hürden und Würden nacheifern müssen. Wenn wir frei, befreit hiervon sind.

Wittgenstein → ist reich. Man kennt, sagt Justus Noll in Österreich den Namen Wittgenstein so, wie in Deutschland Krupp. Wittgenstein ist überdurchschnittlich musikalisch, er verfügt, wie es heißt, über das absolute Gehör. Er will Dirgent werden bzw. Physik studieren. Trotzdem ergriff ihn, so seine Schwester plötzlich die Philosophie d.h. das Nachdenken über philosophische Probleme, so stark und völlig gegen seinen Willen, dass er schwer unter der doppelten und widerstreitenden Berufung litt und sich wie zerspalten vorkam.

Saulus/Paulus gleich gerät er an den Mathematiker Frege. Er besucht ihn. Dazu Noll: … als Ludwig vor der hübsch gelegenen rot-weißen Villa im Forstweg 29 steht, hört er den Lärm von Kindern, die im Garten spielen und sieht eine Reihe von Schulmützen. Er klingelt, und ein kleiner adretter Mann öffnet, dem Ludwig sagt, er wolle Professor Frege besuchen. „Ich bin Professor Frege“, antwortet der Mann. „Unmöglich!“, entfährt es Ludwig. Trotzdem. Die beiden kommen ins Gespräch, wie man sagt und Frege meint, Wittgenstein solle nach Cambridge und zu Bertrand Russell →.

Der reiche Wittgenstein befolgt diesen Rat. Für Russell ist bereits nach dem ersten Treffen klar: Seine Lawinen lassen meine wie bloße Schneebälle ausehen. Er besitzt reine intellektuelle Leidenschaftlichkeit im höchsten Grade; deswegen liebe ich ihn.

Wittgenstein bleibt in Cambridge und wird von den „Aposteln“ zu denen auch Russell gehört, erwählt. Die Apostel verstehen sich als Geheimbund, als eine zivilisierte Antwort auf die Barbarismen der englischen öffentlichen Schulerziehung und die erstickenden Moralismen des englischen Familienlebens.

Man ist frei, pflegt den Adel des Geistes. Diskutiert und ist offen; auch in sexueller Hinsicht. Bei den Diskussionen gab es, wie Russell später schreibt grundsätzlich keinerlei Tabus, keinerlei Begrenzungen, nichts wurde als anstößig betrachtet, keinerlei Schranken bestanden für die unbedingte Freiheit spekulativen Denkens. Homosexuelle und heterosexuelle Apostel gelten als gleichberechtigt. So brachte die Geliebte Russells nach dessen Worten: Unterröcke und Frivolität in das durch Arschfickerei und hohen Gedankenflug geprägte Milieu…

Wittgenstein lernt in diesem Kreise David Pinsent kennen. Freud zufolge, verfallen alle, die edler sein wollen als ihre Konstitution es ihnen gestattet, der Neurose; jene hätten sich darum wohler befunden, wenn es ihnen möglich geblieben wäre, schlechter zu sein.
Wittgenstein wählt in seiner Beziehung zu Pinsent nicht die Onanie und auch nicht den homosexuellen Kontakt, sondern das Zölibat. Beide unternehmen viel, reisen nach Island und Norwegen. Schreiben. Pinsent Tagebuch und Wittgenstein philosophisches. Schließlich will Wittgenstein wieder nach Norwegen. Alleine. Russell vermittelt: „Dort ist es dunkel“, hält es ihm vor. „Ich hasse Tageslicht!“ antwortet Ludwig. „Es wird sehr einsam sein.“ „Ich prostituiere meinen Geist, wenn ich mit Intellektuellen rede.“ „Du bist geisteskrank!“ „Gott wird mich vor Gesundheit schützen.“ „Das wird Gott bestimmt tun.“ Russell gibt auf.

Die Reise kommt nicht mehr zustande. Der erste Weltkrieg beginnt. Wittgenstein meldet sich freiwillig, Pinsent avanciert später zum Testpilot für kriegswichtiges Material und kommt bei einem Absturz ums Leben. Russell verliert seiner pazifistischen Haltung wegen den Lehrstuhl und wird inhaftiert.

Wittgenstein schreibt an der Front sein Eröffnungwerk, den Tractatus logico-philosophicus →. Er widmet ihn Pinsent.

Nach dem Krieg kommt es zum Streit mit Russell. Der Vatermord. Wittgenstein, wir wissen das, unterscheidet. Unterscheidet zwischen dem, was sagbar ist und dem, worauf wir sprachlich verweisen können, das aber nicht sagbar ist und worüber wir darum schweigen müssen. Sagbar sind alleine die Tatsachen, wie sie von der Naturwissenschaft geschaffen werden. Wittgenstein findet so, jenseits von Wissen, Raum, Glaubensraum und betritt ihn, kniet sich hin und spricht: „Es ist niemand hier.“ Russell schreibt an seine Freundin: Wittgenstein liest Leute wie Kierkegaard und Angelus Silesius, und er überlegt ernsthaft, Mönch zu werden…er ist tief in mystische Denk- und Empfindungsweisen eingedrungen.

Wittgenstein handelt. Er verschenkt sein Millionenerbe, lässt sich in Wien zum Volksschullehrer ausbilden, jobbt als Hilfsgärtner. Russell sieht hierinnen die Verleugnung seiner eigentlich größten Begabung und zieht Parallelen zu Pascal und Tolstoi: Pascal war ein genialer Mathematiker, gab aber die Mathematik auf, um sich der Frömmelei zu widmen. Tolstoi opferte seine Genialität als Schriftsteller zugunsten einer vorgetäuschten Demut, die ihn Bauern gebildeten Menschen und „Onkel Toms Hütte“ allen anderen Werken der Dichtung vorziehen ließ. Wittgenstein, der mit metaphysischen Feinheiten genauso gut spielen kann wie Pascal mit Sechsecken oder Tolstoi mit Zaren, vergeudet sein Talent und erniedrigt sich vor dem Alltagsdenken wie Tolstoi vor den Bauern - in beiden Fällen durch einen Anfall von Hochmut.

Die beiden verlieren sich aus den Augen. Wittgenstein schreibt: Täglich denke ich an Pinsent. Er hat mein halbes Leben mit sich genommen. Die andere Hälfte wird der Teufel holen. Bezugnehmend auf diesen Eintrag heißt es abschließend im Buch von Noll: Der Teufel hatte auch die Freundschaft zu Russell geholt.

Philosophen sind schwer zu fassen.

1937 ist Wittgenstein wieder in Norwegen und schreibt. Ich danke Gott“, heißt es, „dass ich in die Einsamkeit nach Norwegen gekommen bin. Am 23. August will ein junger Student, Francis Skinner, ihn besuchen. Der inzwischen 48 jährige lädt ihn ein. Skinner bleibt 5 Tage. Wittgenstein notiert hernach ins Tagebuch: Zwei oder dreimal mit ihm gelegen… heute in meiner Hütte zurück. Etwas bedrückt; auch müde.

Das Buch:
Justus Noll. Ludwig Wittgenstein-David Pinsent. Rowolth. Berlin Verlag GmbH, Berlin. 1998.

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