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Stand: 19. November 2007
Maarten't Hart: Das Wüten der ganzen Welt
Was, wenn ein Calvinist von der Welt bekehrt, zum Schriftsteller wird? Es wird eine Lücke geschlossen, denn Calvinisten erzählen nicht.

Maarten’t Hart war Calvinist, ist heute bekennender Atheist und zählt zu den großen Schriftsteller der Gegenwart.Wir haben die Fenster geöffnet und werden sie nicht wieder schließen. Goethe Jedes Buch wird seit seinem literarischen Durchbruch 1993 in allen Zeitungen von Rang besprochen und durchweg mit Lob bedacht. Dies scheint seltsam, denn kaum einer, der zig Millionen Leser kann sich mit dem in seinen Werken Thematisierten identifizieren.

In dem Roman „Das Wüten der ganzen Welt“ durchlebt/durchleidet der Ich-Erzähler z.B. ein zur Sprache gebrachtes Desaster der eigenen sexuellen Entwicklung. Es beginnt in der Kindheit damit, dass er für einen „Quartje“ vor dem Dorfpolizisten die Hose runterlässt:
„Vorsichtig zog ich meinen Schwimmer hoch. Ich lehnte meine Angel an die Trauerweide. Ohne etwas zu sagen, ohne ihn anzusehen, stellte ich mich hin und zog, hastig veranlagt, wie ich nun einmal bin, in Windeseile meine Hose und Unterhose aus…Er holte aus der linken Jackentasche seiner Uniform eine Taschenlampe, knipste sie an und leuchtete mit dem durch das Sonnenlicht fast unsichtbaren Lichtstrahl auf mein Geschlecht. Dieser Lichtstrahl glich fast einem Finger. Er tastete meinen Penis und meine Hoden rundrum ab. Dann sagte er: „Zieh’s mal wieder an!“

Der Held des Romans schweigt über den Vorfall, der sich mehrfach wiederholt bis in die Pubertät. Hier ist es sein bester Freund, der ihn schockiert, damit,
„dass er mir eines Abends Knall auf Fall vorschlug: ‚Sollen wir bei dir unter die Decke kriechen? Dann kitzel ich dich, und du kitzelst mich.’ “

Doch nicht nur der Glaube an Freundschaft zerbricht. Später fällt über den jungfräulichen Chemiestudenten unverhofft dessen Tutorin her und ‚will’ ihn:
„Sie lächelte wieder, sie sagte: ‚Ach, komm, nun wollen wir uns mal aussprechen, ich bin verrückt nach dir, wirklich wahr, und du… du findest mich ein bisschen unheimlich, du hast etwas Angst vor mir, aber das ist… du weißt das noch nicht, oder du bist noch nicht soweit, um das zu wissen, aber Angst ist auch Liebe, Angst ist der beste Nährboden für Liebe, das wirst du schon noch entdecken, ich würde es nur nicht gern mit ansehen, dass du, bevor du das entdeckst, versehentlich irgendeine storchbeinige Person nett findest.’ Mit der rechten Hand wühlte ich in meinem Haar. Damals ging das noch…“

Er (unt)erliegt ihr, kann sich jedoch losreißen und ehelicht im weiteren Verlauf des Romans die Schwester seiner eigentlichen, einzigen und großen Liebe:
„So geschah es, dass ich J. heiratete. Man könnte vielleicht meinen, dass ich wegen der Annäherungsversuche von Y. und W. aus Bequemlichkeit in ihre Arme flüchtete. Aber so war es nicht, oder nicht allein, glaube ich…“

Die Menschen bieten keinen Halt, keinen Schutz. Doch auch dem Denken, vorzugsweise der Philosophie wird dem Orientierung Suchenden schon in der Jugend auf nachvollziehbare Weise der Gar ausgemacht:
„’Philosophie’, sagte er halb spottend, ‚war meine große Leidenschaft, als ich zwischen zwanzig und dreißig war. ich habe noch Vorlesungen von B. gehört, ich habe sogar den Nazi Heidegger gelesen und Husserl, und ich war vor allem begeistert von den Philosophen des Wiener Kreises, Carnap und all den Leuten, dem logischen Positivismus… Ach ja, alles wunderbar, aber eins will ich dir sagen, dann kannst du dir die Zeit sparen: man hat überhaupt nichts davon. Natürlich: Schopenhauer zu lesen ist umwerfend, aber kein Schwanz glaubt wirklich an diesen Weltwillen. Und dabei ist er von allen Philosophen noch derjenige, der am besten schreibt! Aber lies mal Heidegger und wurstel’ dich durch die -Logischen Untersuchungen- von Husserl hindurch -laut Bertrand Russel eines der gewaltigsten philosophischen Werke unseres Jahrhunderts. Wenn man zum Schluss nach tagelangem, was sage ich: wochenlangem Studium mit seinem Latein am Ende ist, steht man mit leeren Händen da.’ Er schenkte sein leeres Glas wieder voll…“

Das einzige, was im Leben hilft und durchgehenden Bestand hat, ist Musik. Dazu bekennt sich der Ich-Erzähler, dazu steht Maarten’t Hart, der darum im Anhang des Werkes auf über 2,5 Seiten ein, wie er es nennt, „kleines Brevier zum Mit- und Nachhören“ zusammengestellt hat; eine feste Burg, gegen das Wüten der ganzen Welt.

Das Buch:
Maarten’t Hart. Das Wüten der ganzen Welt. Arche Verlag AG. 1997.
(ausgezeichnet vom niederländischen Buchhandel mit dem „Gouden strop“, dem Preis für das spannendste Buch des Jahres 1997)

Links zum Buch:
www.helmholtz-bi.de ↓ →

Die wohl die umfassendste Recherche zu Maarten't Hart und dem Buch im Internet! Neben der lesenswerten Biografie bietet die Homepage eine Fülle von Hintergrundmaterial (Schauplätze der Romanhandlung, Lesevarianten zum Mord am Dorfpolizisten etc).

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www.neksus.de →
www.dradio.de →
www.krimi-couch.de →
www.leserattenforum.de/ →


Link zu:
Glenn Gould plays Bach →
Canon Rock (Jesse's Mix) ↓ →

...auch dieser Link passt; auch diese Interpretation ist bestimmt *sic!* im Sinne des Autors.

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Kleines Brevier:
Das oben erwähnte, vom Autor zusammengestellte "kleine Brevier zum Mit- und Nachhören für Leserinnen und Leser des Romanes":
Download "Kleines Brevier" →
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