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Stand: 19. Juli 2007
Jonathan Franzen: Die Unruhezone
„Ich lerne sehen. ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war.
Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“
Rilke. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.
Eine Psychoanalyse gilt gemeinhin als beendet, wenn es gelingt, mit Schuldzuweisungen aufzuhören. Jonathan Franzen reicht dies nicht. Er versucht und schafft es tatsächlich ein Gespür, einen Sinn beim Leser, mit dem Leser zu schaffen, dafür, dass aus dem: „Schuld ist der Andere, Anderes“ ein: „Schuld bin ich, der Held“ wird. Das ist nicht neu. Bekanntlich blendet sich Ödipus, bestraft sich nicht dafür, dass die Götter ein/ihr Spiel mit ihm trieben, sondern, weil er das Geschehene als seine Schuld begreift.

Das verstehe, wer will, wer’s kann. Doch von vorne und noch mal:

Jonathan Franzen ist so was wie ein Weltmeister innerhalb der Literaturszene. Seinen Roman „Die Korrekturen“ muss man gelesen haben, so wie beispielsweise die „Ulysses“ von James Joyce oder von Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.

„Die Unruhezone“ indes ist nicht so dick oder umfangreich und die Lektüre nicht sonderlich schwierig. Es ist ein Erinnerungsbuch. Franzen erzählt von seiner Jugend, ein bisschen aus seiner Kindheit, über sein Verhältnis zu seiner Mutter, die er erst liebt/lieben kann, nachdem sie gestorben ist und seiner „Liaison“ zu Vögeln. Dazu notiert er: „…dann starb meine Mutter, und zum ersten Mal in meinem Leben ging ich Vögel beobachten“.

Franzen ist amerikanischer Schriftsteller, der die deutsche Literatur liebt. Ursprünglich sollte er Wissenschaftler werden. Seine Eltern fragen darum Bob „der Medizin studierte, welche Fremdsprache ein angehender Wissenschaftler an der Highschool lernen solle“ und Bob „antwortete unmissverständlich: Deutsch.“ So lernte Franzen Deutsch, und kam schließlich nach Deutschland, allerdings um Germanistik zu studieren, was er ausführlicher thematisiert.

Im Rahmen eines Seminars soll er sich zu dem Roman „Der Prozess“ von Franz Kafka äußern.

„Wir reden jetzt seit zwei Stunden über dieses Buch“, sagte A. zu uns, „und es gibt eine sehr wichtige Frage, die niemand stellt. Kann mir jemand sagen, welche nahe liegende wichtige Frage das ist?“
Wir sahen ihn alle nur an.
„Jonathan“, sagte A. „Sie sind in dieser Woche bisher sehr still gewesen.“
„Tja, also, der Albtraum der modernen Bürokratie“, sagte ich. „Ich weiß nicht, ob ich dazu so viel sagen kann.“
„Sie erkennen nicht, was das mit Ihrem Leben zu tun hat.“
„Bestimmt weniger jedenfalls als bei Rilke. Ich meine, ich muss mich ja nicht mit einem Polizeistaat rumschlagen.“
„Aber Kafka handelt von ihrem Leben!“, sagte A. „Ich will Ihre Bewunderung für Rilke ja nicht schmälern, aber ich sage Ihnen, Kafka hat einiges mehr mit Ihrem Leben zu tun als Rilke. Kafka war wie wir. Diese Schriftsteller, das waren alles Menschen, die nach dem Sinn ihres Lebens suchten. Vor allem aber Kafka! Kafka hatte Angst vor dem Tod, er hatte Probleme mit Sex, er hatte Probleme mit Frauen, er hatte Probleme mit seiner Arbeit, er hatte Probleme mit seinen Eltern. Und er schrieb Literatur, um mit diesen Dingen klarzukommen. Davon handelt dieses Buch. Davon handeln alle diese Bücher. Von Menschen aus Fleisch und Blut, die dem Tod und der modernen Welt und dem Durcheinander ihres Lebens einen Sinn zu geben versuchen.“


Was folgt, ist das, was Franzen zusammen mit „A.“ (s)einen „dreifachen Interpretationskosmos“ nennt. Im Interpretationskosmos 1 ist Josef K., der Held des Romans ein „zu Unrecht angeklagter Unschuldiger“. Es gibt jedoch auch „einen weiteren Kosmos, in dem das Maß von K’s Schuld unklar bleibt“ - also „Schicksal, schicksalhaft-zufällig-absurd“ ist, und einen dritten Interpretationskosmos, in dem Josef K. schließlich schuldig ist.

Der heute knapp 50zig jährige Franzen „sieht“ es in der zuletzt genannten Interpretationsweise. Er schreibt: „… doch als ich es mir jetzt wieder ansah, merkte ich: Gelesen hatte ich das Kapitel kein einziges Mal. Was auf den Seiten im Gegensatz zu dem, was ich dort erwartet hatte, wirklich stand, war so verstörend, dass ich mein Denken ausgeschaltet und einfach nur so getan hatte, als läse ich. Ich war von der Unschuld des Helden so überzeugt gewesen, dass mir entgangen war, was der Autor sagte, klar und unmissverständlich, in jedem Satz. Ich war genauso blind gewesen wie K. selbst. Und so wurde ich, A. Ausführungen über die drei Kosmen der möglichen Interpretation ignorierend, zum dogmatischen Verfechter des Gegenteils meiner ursprünglichen Auffassung. Ich befand, dass K. ein widerlicher, arroganter, selbstsüchtiger, beleidigender Fiesling ist, der, weil er sich weigert, sein Leben zu hinterfragen, es gezwungenermaßen für sich hinterfragen lassen muss.“

Wie gesagt „das -das alles“ verstehe und begreife, wer will, wer’s kann. Schon. Schon jetzt.
Ich find’s spannend- wie die Korrekturen.
:-)

Das Buch:
Jonathan Franzen. Die Unruhezone. Rowolth Verlag GmbH. 2007.

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